Digestif: Ritual mit Placebo-Effekt

Am 4. April 2023 · von Jürgen Overheid

Nach dem Essen schlägt die Stunde des Digestifs. Kollege Jürgen über ein lieb gewonnenes Ritual mit irreführendem Namen. Und um was es beim Digestif eigentlich geht.

Ob der Digestif zu Recht seinen Namen trägt, ließe sich angeregt diskutieren. Denn seine Herleitung von dem lateinischen Wort für Verdauung, spielt auf die angeblich wohltuende, aufräumende Wirkung einer Spirituose nach dem guten Essen an. Um es gleich zu sagen, der Alkohol ist es jedenfalls nicht, der die Verdauung anregt. Das ist wissenschaftlich nicht zu halten und lebt nur noch als Placebo in unserer Trinkkultur fort. Dennoch ist der Digestif von den Getränkekarten der Gastronomie und den heimischen Festtischen nicht verschwunden. Und das ist auch gut so.

Digestif vs. Aperitif

anstoßen Digestif

Ein Digestif wird nach dem Essen serviert, ein Aperitif davor. Was aber genau als Digestif und was als Aperitif einzuordnen ist, kann nicht pauschal gesagt werden.

Einigen wir uns zunächst darauf, dass Digestif nichts anderes meint, als einen Drink, den wir nach dem Essen genießen – im Gegensatz zum Aperitif, der ein solches Mahl einleitet. Tatsächlich ist die Aufteilung einzelner Spirituosen und anderer alkoholhaltiger Getränke in „Team Aperitif“ oder „Team Digestif“ gar nicht so einfach. So wird ein Ouzo beispielsweise in seiner griechischen Heimat als Aperitif zu kalten Vorspeisen gereicht, hingegen er bei uns eher als klassischer Absacker beim Griechen um die Ecke bekannt. Genauso unentscheidbar ist es übrigens auch bei einem Cocktail.

Stellen wir die Frage nach den Spirituosen – wobei auch verstärkte Weine wie Portwein und Sherry infrage kommen – für den Digestif mal ganz pragmatisch. Alle Traditionalisten, die auf einen die Verdauung unterstützenden Digestif bestehen, sollten sich den Kräuterbittern und Kräuterlikören öffnen. Denn für bestimmte Kräuter sind solch unterstützenden Effekte schon belegbar. Die Auswahl, um es auszuprobieren, ist ohne Zweifel groß genug und schließt Anisspirituosen wie Raki, Ouzo und Anisette, aber auch solche Kostbarkeiten wie einen Absinth mit ein. Der andere Weg des Digestifs weist in Richtung Nachtisch und kann dann etwas Süße mitbringen – sprich Liköre – oder bestimmte Fruchtnoten betonen. Das wäre ein Fall für den Obstbrand und den Obstgeist.

Digestif aus Liebe zur Region

Anisschnaps

Typisch in Griechenland ist die Anisspirituose Ouzo.

Bereits für die Weinbegleitung zum Essen gilt, dass Speise und Begleiter gern die gleiche Herkunft teilen dürfen. Klar passt der Burgunder zum Bœuf Bourguignon oder der Sangiovese zur Pasta. Das spricht wieder für den Ouzo beim Griechen, aber auch für den Grappa beim Italiener oder einen Cognac beim Franzosen. In Deutschland sind solche Vorlieben je nach Region unterschiedlich. Während die Norddeutschen auf Kornbrand und Kümmel als traditionellen Digestif schwören, findet sich in Süddeutschland die Obstbrandfraktion. Es ist also für jeden etwas dabei. Aber auch im Trunk nach dem Essen kann ebenso viel Heimat stecken wie in einem erstklassigen Wein.

Digestif aus Liebe zur Definition

Für alle, denen das jetzt etwas zu pragmatisch erscheint, hier kommen unsere Fantastischen Vier für einen guten Digestif:

Kräuterbitter und Kräuterliköre

Sie sind die Gralshüter des Verdauungsarguments und bremsen mit bitteren Tönen und herber Aromatik ein reichhaltiges Essen wunderbar ein. Überdies aus Italien und Frankreich, Deutschland und Spanien zu haben. Tipp am Rande: je süßer der Kräuterlikör, desto sanfter bremst er.

Anisspirituosen – aus aller Herren Länder

Anis zählt zu den Kräutern, die mit ihrem vorspringenden Geschmack für einen gefühlten Neustart nach dem Essen sorgen. Daher gilt für die ganze Mittelmeer-Familie von Pastis bis Raki und von Ouzo bis Anisado: unbedingt Digestif-tauglich. Zudem mit Wasser je nach Belieben zu portionieren.

Obstbrand und Obstgeist

Setzen aromatisch auf die fruchtige Seite oder bringen Kräuter, Pilze und anderes Wildes ins Glas. Ebenso klassisch wie für eine Überraschung gut – bei einem Vogelbeergeist etwa taucht plötzlich Marzipan im Glas auf. Und auch wenn es nicht ganz richtig ist: Tresterbrände wie Grappa meinen wir an dieser Stelle gleich mit.

Cognac und Brandy

Cognac

Cognac wird meistens in der französischen Kultur als Digestif gereicht.

Eigentlich der Klassiker im Herrenhaus-Stil samt Kaminfeuer. Doch bei aller vorgeschobener Angestaubtheit, Weinbrände sind ein grandioser Kontrapunkt zu einem Essen. Wem das zu spießig ist, versuche sich an Cocktails mit Cognac und Brandy wie einem Sidecar oder Jack Rose.

Digestif alkoholfrei

Noch einmal zu der verdauungsfördernden Wirkung eines Digestifs. Wir waren ja schon bei den Kräutern gelandet. Genauer genommen sind es die Bitterstoffe darin, die den Magen tatsächlich anregen. Deshalb kann auch ein Kaffee oder Tee ein guter Digestif sein – von Kaffee-Anis-Kombinationen ganz zu schweigen. Aber es geht auch ohne Alkohol, wenn man einen geschmacklichen Abschluss des Essens sucht, um sich für eine Neuorientierung in Hinblick auf Genuss zu öffnen. Neu auf der Digestif-Karte in der Gastronomie sind Frucht-Essige. Sie sorgen mit feiner Frucht und gehörig sanfter Säure für einen Abschluss des Essens. Na, wie wäre es? Oder doch lieber einen Cocktail?

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