Rebsorten-Stammbaum: Wer, wann und mit wem?
Am 2. September 2019 · von Daniel MünsterAn der Frage nach dem ultimativen Stammbaum aller Rebsorten scheitert Weinfreund Daniel Münster. Warum es so kommen musste, ist ebenso lehrreich wie anregend.
Stammbäume und Ahnenforschung sind in. Nicht nur der Hochadel legt Wert auf seine Abstammung, auch Lieschen Müller und Max Mustermann wollen immer öfter wissen, woher sie kommen und von wem sie abstammen. Wie schön wäre es also, wenn es auch für die vielen Rebsorten, die unsere Weinwelt so verdienstvoll bereichern, einen solchen Stammbaum gäbe. Gibt es aber leider nicht und das hat gleich eine Menge Ursachen.
Aber beginnen wir mit dem, was Botanik und Rebsortenkunde, fachwissenschaftlich Ampelographie genannt, zum Stammbaum-Projekt beitragen können. Die Familie der Rebengewächse (Vitaceae) lässt sich in die beiden Untergattungen Muscadina und Euvitis aufteilen. Davon interessiert den Weinfreund jedoch nur die Untergattung Euvitis, da allein sie für den Weinbau interessant ist.
Euvitis wiederum ist in drei Gruppen eingeteilt, in die asiatischen, die amerikanischen und die europäischen Reben. Doch während die asiatischen und die amerikanischen Reben jeweils 30 unterschiedliche Arten zählen, besteht die europäische Gruppe aus nur einer einzigen Art: der Vitis vinifera, was man in etwa mit die „Rebe, die Wein trägt“ übersetzen kann. Allein von der einen Art bis zu den vielen Rebsorten ist es noch ein weiter Weg. So geht man davon aus, dass in Europa zwischen 8.000 und 10.000 unterschiedliche Rebsorten aus der Vitis vinifera hervorgegangen sind. Und schon sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir uns von einem wunderbar übersichtlichen Stammbaum verabschieden müssen.
Rettung vor der Reblaus
Bevor wir diesen Faden wieder aufnehmen, lohnt noch ein Blick auf die amerikanischen und asiatischen Arten. Diese rund 60 Spezies stehen nämlich prinzipiell für Kreuzungen mit Arten der europäischen Vitis vinifera bereit und schon einmal war dies für den europäischen Weinbau existentiell entscheidend. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Reblaus-Katastrophe in den europäischen Weinregionen wütete, waren es die amerikanischen Reben, die Abhilfe schafften. Sie sind nämlich gegen die Reblaus resistent und so pfropften die Winzer ihre heimischen Edelreben auf amerikanische Wurzelstöcke. Auch beim Bemühen, pilzwiderstandsfähige Rebsorten – die sogenannten PIWI – zu züchten, spielen die amerikanischen Verwandten eine Rolle. Sie sollen in die neuen Sorten Resistenzen einbringen und die europäischen Edelreben die aromatischen Qualitäten.
Transatlantische Partnerschaft ist also auch für den Weinbau wichtig und wer weiß, ob wir in Zeiten des Klimawandels nicht auch auf amerikanischen Arten zurückgreifen wollen, die sich durch größere Hitzetoleranz auszeichnen. Den Reben wäre es sicherlich gleich, aber die Arbeit am fiktiven Stammbaum aller Rebsorten würde es zusätzlich erschweren.
Let’s talk about Sex
Also natürlich über den Sex der Vitis vinfera, keine Sorge. Dennoch ist dieser Beitrag im engeren Sinne nicht jugendfrei, denn im Weinberg geht es zu wie Sodom und Gomorrha. Grund dafür ist, dass in einer Weinblüte meist weibliche und männliche Anlagen vereinigt sind, was eine klare Zuordnung von Mutter und Vater mitunter unmöglich macht. Hinzu kommt, dass die Blüten nicht nur von „eigenen“, sondern auch fremden Weinblüten befruchtet werden können. Das erhöht wiederum die Mutationswahrscheinlichkeit selbst innerhalb einer Rebsorte. Um so mehr, wenn noch mehrere Generationen dieser Sorte im Weinberg stehen oder gar andere Rebsorten in unmittelbarer Nähe zu Kreuzungen führen. Um es auf die Spitze zu treiben, stelle man sich einen Weinberg vor, der im gemischten Satz bestückt ist, wie wir es aus Österreich oder auch vom portugiesischen Douro kennen. Da ist selbst der Kreuzinzest kein Tabu! Und nicht zum Nachteil der Weinfreunde!
Wird die Vermehrung einer Sorte vom Menschen verstärkt bestrieben, können durch Mutationen über Generationen hinweg sogar „neue“ Rebsorten entstehen. Das gilt beispielsweise für die Burgunderfamilie. Am Anfang war der Pinot Noir, doch Mutationen veränderten mit der Zeit bestimmte Merkmale wie die Ausprägung der Farbe oder auch des Reifeverhalten. So kamen letztlich der Pinot Gris und der Pinot Blanc in die Welt, die heute als eigene Rebsorten gelten.
Familien-Clans und Rebsorten-Adel
Aus dem Beispiel von Spät-, Grau- und Weißburgunder lässt sich noch etwas lernen: Obgleich die Zahl der Rebsorten, die für den Weinbau Bedeutung haben, in die Hunderte geht, sind es doch deutlich weniger Rebsorten, die gleich dem Pinot Noir am Anfang einer Entwicklung standen. Als erstes ist wohl der Gouais Blanc anzuführen. Von der auch Weißer Heunisch genannten Rebsorte stammen geschätzt rund 120 Rebsorten ab. Darunter solche Edelreben wie Chardonnay und Riesling, Silvaner und Furmint. Zu diesem Rebsorten-Adel mit prominenter Nachkommenschaft zählen unter anderen auch der Cabernet Franc aus Frankreich, der italienische Nebbiolo, der Muscat Blanc und auch der Traminer.
Nicht immer bedeuten – wie bei den Burgundersorten – dabei gleichlautende Namen, dass die Rebsorten auch miteinander verwandt sind. Über dieses Verwirrspiel der Synonyme hat bereits Weinfreund Jürgen Overheid aufgeklärt. Es macht einmal mehr deutlich, dass „der“ Rebsorten-Stammbaum ein nahezu unmögliches Unterfangen ist. Zwar sind mittlerweile DNA-Tests zur Bestimmung der genetischen Herkunft ein probates Mittel, doch geben sie nicht Auskunft darüber, wann welche Veränderung oder Mutation stattgefunden hat. Und manchmal irrt sich sogar der Züchter dabei. So gab Peter Morio seinen Morio-Muskat als Kreuzung aus Silvaner und Weißburgunder aus, bis vor einigen Jahren der DNA-Test ergab, dass tatsächlich Silvaner und Gelber Muskateller zusammengefunden hatten.
Vielfalt genießen, staunen & wundern
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